Einleitung
Die Frage nach bloßer Freiheit offenbart schnell einen schwachen Stand, der immer wieder davon bedroht ist, völlig überrannt zu werden. Der klassische Begriff der Freiheit als negativer Begriff der Abwesenheit, Trennung und Loslösung ist ein Begriff, der sich gar nicht erst mit einem fassbaren positiven Inhalt befüllen lassen will, der bewusst einen Raum offenlässt und ihn einem privaten Interesse überlässt. Und es bleibt immer schwierig, mit einer solchen von außen empfundenen Leerheit, ertragenen Unbestimmtheit, ja Libertinage in der Breite und auf Dauer gegen den öffentlichen Willen zu bestehen und damit der Tyrannei des Kulturkollektivs standzuhalten ohne selbst zur machtvollen Kultur werden zu wollen.
Jede Bewegung ist dabei unvermeidlich eine befreiende Bewegung, die sich von etwas Unerwünschtem entfernt - aber uno actu auch auf etwas Gewolltes zubewegt, um es letztlich zu besetzen, zu besitzen und zu verzehren. Und als solche muss sie in der Lage zur Verteidigung sein, d.h. den Ausschluss fremden Zugriffs aufrecht erhalten können. Denn jeder Konflikt in der Menschheitsgeschichte entsprang nichts anderem als einer sich gegenseitig ausschließenden Interessensüberschneidung über einen Interessensraum, der dadurch zu einem knappen Raum wird. Ohne diese Knappheit hat weder Freiheit noch Macht einen Grund. Freiheit und Macht sind zwei Seiten einer Medaille. Es erscheint daher lohnend, sich vom Gegensatz her zu nähern und den Freiheitsgedanken zu komplementieren und zur Synthese zu bringen: über die Machtfrage, die Frage des Habhaftwerdens, das die Befreiung en passant erledigt.
Das begriffliche Werkzeug soll dabei vor allem die Praxeologie sein - die Logik des menschlichen Handelns, denn jede bewusste menschliche Bewegung ist eine Handlung, d.h. eine bewusste Ausführung einer vorangegangenen Entscheidung. Worin bestehen die bewussten, rationalen Anteile der Macht? Dies soll Gegenstand dieses Aufsatzes sein.
Zum Begriff der Macht
Als erstes soll der Machtbegriff von jedem Anflug der Hypostase befreit sein. Macht ist kein Substrat, kein tatsächlicher Gegenstand in der Umwelt Handelnder, und nichts, was sich im Besitz eines Mächtigen befindet. Macht ist nicht einmal ihr Gebrauch selbst. Macht bedingt Sprache als ihr Mittel und hier insbesondere die Vermittelung von Handlungskosten. Macht wirkt im und durch den Sprechakt, um Einstellungen zu ändern und entscheidenden Einfluss auf die Entscheidungsfindung und letztlich Handlungen zu nehmen. Macht ist das Vermögen - und hier kommt die praxeologische Betrachtung ins Spiel - Wertränge eines Gegenübers zu verändern. Wieso sollte jemand tun, was ein anderer verlangt oder wünscht? Das ist die eigentliche Frage der Macht.
Die Machtwirkung
Trifft ein machtvoller Sprechakt erfolgreich auf einen Empfänger, verschiebt sich der ursprüngliche, davon betroffenene Wertrang. D.h. eine frühere, zuvor präferierte Handlungsoption erscheint infolge zu kostenreich, verliert dadurch ihren Vorzug(höheren Wertrang) - wird verworfen und aufgegeben. Kosten sind im praxeologischen Sinne Opportunitätskosten und bestehen also im Verlust von Handlungsoptionen. Diese Kosten erfolgreich zu kommunzieren, ist der eigentliche Machtvorgang. Diese Kosten können in zweierlei Form auftreten: Zum einen als angedrohter, bestrafender Verlust bereits verfügbar angenommener Möglichkeiten, zum anderen als Verlust von Möglichkeiten, die noch hinzutreten könnten als Belohnung für ein gewünschtes, opportunes Verhalten im Gegenzug.
Man fügt sich letztlich, weil die Kosten es nicht zu tun, höher bewertet werden als die Kosten für das Fallenlassen der ursprünglich präferierten Option. Und zu diesem Zweck versucht die Gegenseite, Kipppunkte von Entscheidungen offenzulegen oder zumindest zu antizipieren, um ausreichend hoch rangierende Handlungskosten zu vermitteln. Über eine Person, der nichts teuer ist, weder Verlust noch Gewinn, kann man keine mittelbare Macht ausüben, denn sie ist für eine Kostenkommunikation unerreichbar. Und ohne Kostenkommunikation ist keine Macht möglich. Macht ist wirksame Kostenkommunikation.
Macht ist also ein Verhältnis zwischen nach Besitz Strebenden, da man nur durch Besitz mit Kosten konfrontieren und konfrontiert werden kann. Und sei es nur der Besitz einer nackten Existenz bestehend aus einem Körper und dem bisschen Raum, den er einnimmt und ein wenig Luft zum Atmen. Solange wenigstens ein Interesse an etwas besteht, kann Macht ausgeübt werden.
Wer fast nichts zu verlieren hat, hat fast alles zu verlieren. Und wer kaum etwas besitzt kann durch wenig viel gewinnen. Der so genannte Grenznutzen im ökonomischen Sprachgebrauch nimmt nicht nur ab, sondern in der Gegenrichtung zu. Wer gänzlich ohne Geld dasteht, für den wird eine einzige Geldeinheit an der Grenze zur Entscheidung einen anderen Stellenwert haben als für jemanden, der über Abertausende davon verfügt. Diese eine letzte Geldeinheit wird ihn kaum zu etwas bewegen können, weder als angedrohter Verlust noch als versprochener Gewinn, da ihr Wertrang unter vielen anderen möglichen Geldsummen (die aus der verfügbaren Gesamtsumme gebildet werden können) liegen wird.
Eigentum als eine erste Einrichtung der Macht
Eigentum bedingt Knappheit. Ein Raum wird zum knappen Raum, wenn nach den Erstbesetzungen des bis dato noch unbesetzten Raums die Raumgreifenden aufeinandertreffen und einundselben Raum beanspruchen. John Locke hat dazu seinen berühmten Proviso(Einwand, Einspruch) formuliert, wieviel an erster Besetzung akzeptabel sei: "at least where there is enough, and as good, left in common for others."1 Aber dies ist nur ein moralischer Anspruch, der bedeutungslos bleibt, solange er nicht machtvoll unterfüttert werden kann, also zu einer bestimmten Eigentumskultur wird. Ob das Übriggelassene genügt oder die Besitznahme zu weit geht, bleibt eine offene Frage, eine Frage der Setzung, Durchsetzung und damit eine Machtfrage. Eigentum als verlässlicher Besitzstand geht über den bloß besetzten Raum hinaus. Eigentum entsteht, wenn ein Anspruch auf einen Raum dauerhaft durch Kostenkommunikation fallengelassen bzw. anerkannt wird.
Eigentum offenbart hier eine andere wichtige Voraussetzung der Macht: Sie hängt von einer Markierung oder einem Zeichen ab, einer Art Fokalpunkt in der äußeren gemeinsamen Umgebung, etwas, auf das sich die beteiligten Parteien beziehen können: eine natürliche Grenze, wie ein Fluss oder eine künstlich geschaffene, wie ein Zaun, ein Weg, irgendein zum Zwecke der Kostenkommunikation geschaffenens Zeichen. Wieso sollte nun ein Zaun als Machtzeichen nicht wieder eingerissen oder wenigstens übersprungen werden? Um dies zu verhindern, muss der Einzäunende dazu glaubhaft vermitteln können, dass er in der Lage und willens ist, nötigenfalls die nötigen Ausschlusskosten zu tragen, d. h. erhebliche Anstrengungen zu unternehmen, um die später hinzutretenden Parteien auszuschließen.
Ein mögliches “Recht zur Passage” eines bereits beanspruchten, besetzten Raum entsteht spiegelseitig durch Kostenkommunikation. Wenn die Kosten eines zu rigoros angelegten Ausschlusses gar nicht erst getragen werden können oder wenn die Kosten gemessen am Nutzen eines solchen totalen Ausschlusses zu hoch erscheinen, dann bahnt sich der bis dato Unberechtigte machtvoll seinen Weg und verliert seinen Status als rechtloser Eindringling und gewinnt eine Berechtigung zur Passage. Der sichtbarer Trampelpfad wird zum Teil eines semiotischen Rechtszeichen. Nicht “das Recht” geht hier als Bedingung voran, sondern ein Machtprozess schafft ein Rechtzeichen zur Berechtigung. Eigentum als ein solcher Titel ist nichts anderes als ein eingeräumtes Rechtebündel zu bestimmten Handlungen.
Autorität als Machterhalt durch Einrichtung
Autorität ist Machterhalt und als solcher eine Handlungskosten optimierende Einrichtung zur wiederholten Machtausübung. Eine solche Einrichtung besteht in nichts anderem als im dauernden Eindruck der Machtrezipienten für vergangene erfolgreiche Kostenkommunikationen. Autorität als bleibender Machteindruck. Es geht hier um eine Verfestigung oder Fixierung von Bewusstseinsinhalten als Kult oder “Kultur”, die an die Stelle der ursprünglichen, meist kostenreichen Konfrontation tritt.
Diese Verfestigung oder "Verdickung" des Bewusstseininhalts geschieht über die Hypostase einer Abstraktion(als Entfernung vom Eigentlichen). Ein wahrgenommenes Muster, das vollständig aus den Bewegungen der Akteure besteht, wird benannt, wird zum Name, zu einer benannten Vorstellung oder Idee. Später entsteht aus dieser Idee ein neuer, eigenständiger Gegenstand, der mehr sein will als er eigentlich ist. Dann folgt die entscheidene Wende, die zu einer verblüffenden Besessenheit2 der Betroffenen führt: Diese hypostasierte Abstraktion wird zur unbedingten Voraussetzung der ursprünglicheren Bewegungen, wobei sie ja gerade nur benanntes Ergebnis, also sprachökonomische Benennung dieser Bewegungen ist. Der Sprachgebrauch, also eine Kultur eines bestimmten Sprechens springt von den einrichtenen Aktionen der Akteure, zum Einrichten selbst, zur Einrichtung, zu einem Ding, einem Gestell, zur Sache, die über die Akteure hinausgeht, ja ihr Tun voraussetzt. Das ist die Geburt des Kulturbetriebs - und damit einer Fixierung oder Besessenheit.
Dabei spielt die Art eines solchen Betriebes keine wesentliche Rolle, ob sich um einen Kulturbetrieb im engeren Sinne oder einen Wissenschaftsbetrieb oder eine staatliche Einrichtung eines hoheitlichen Amtes handelt. Die Uniform, der Ausweis, die Dienstmarke, ein bestimmter Habitus, all diese stoische Wiederkehr einer gleichförmigen äußere Erscheinung als Zeichen ist der Träger eines Kults, der den Schein eines tatsächlichen Dahinters nährt. Aus einem bloßen Scherz, aus einem lebendigen privaten Spiel eine ernst anmutende, aus Ehrfurcht erstarrte öffentliche Sache zu machen, das ist die Kunst der Autorität oder Chuzpe3.
Wissenschaft als Kulturbetrieb
Vielleicht wähnt man "die Wissenschaft" - welch' Hypostase auch hier - als am weitesten vom Kulturbetrieb entfernt, am weitesten von einem durchsetzenden Machteinfluss. Aber was ist Wissenschaft? Die Suche nach und die Behauptung von Gesetzmäßigkeiten. Das Grundpoblem dabei ist - wie Karl Popper formulierte, "dass jedes beliebige Ereignis als Wiederholung jedes beliebigen anderen Ereignisses angesehen werden kann, wenn man nur den geeigneten Standpunkt annimmt".4 Mathematisch gesehen ist der gewählte Standpunkt ein funktioneller Zusammenhang zwischen zwei Datensets. Das eine Set bildet die abhängigen Variablen, das andere die unabhängigen. Und der funktionale Zusammenhang tritt dazwischen und bildet das eine durch seine funktionelle Umformung auf das andere ab. Dazu enthält die Funktion notwendig Konstanten. Konstanten, die Namen und Bedeutungen erhalten und letztlich als ursächlich angesehen werden, dass ein X des eines Datensets ein Y des anderen Datensets verursacht. Nun gibt es aber mehrere, ja unendlich viele mögliche funktionale Zusammenhänge zwischen zwei Datensets. Die Wahl des Zusammenhangs und die Wahl der Konstanten und deren Bedeutung ist der eingenommene Standpunkt in der Wissenschaft, ja die Wahl der Begriffsgrenzen überhaupt, wie man die Welt begrifflich zerschneidet(differenziert), was man meint zu messen.
Die Geeignetheit des Standpunkts oder überhaupt die Wahl des Standpunktes und der Blickrichtung ist damit die Machtfrage in der Wissenschaft. Sie ist anhängiges Werturteil, das machtvoll durchgesetzt sein will, wenn es Autorität haben will. Darin unterscheidet sich ein Wissenschaftsbetrieb nicht von allen anderen Kulturbetrieben. Er ist ein Kulturbetrieb, bei dem die Orthodoxie und diverse Heterodoxien um die Hegemonie über die rechte Deutung ungleich streiten bzw. wem das Label der Orthodoxie überhaupt zufällt.
Sprache als allgemeinstes Machtverhältnis
Es wurde vorgeschlagen, der raumgreifenden Macht des kollektiven Kulturbetriebes die "Autorität durch Autorschaft" des Individuums5 gegenüberzustellen. Der Einzelne, der keine Macht hinter sich hat außer seine Worte und die Kraft des bloßen Ausdrucks - nur mit einem Kunststrich, einem Kunststück, einem Kunstwerk, einem bewussten Abweichen vom Alltäglichen und Banalen, der das Publikum überzeugt, verblüfft, verrätselt. Nun ist dabei nicht zu vergessen, dass jede Äußerung aus einer sprachlichen Kultur heraus getätigt ist. Das Wort eines Autors kann nur wirken und kann nur Autorität entwickeln, wenn es aus einer bereits etablierten Kultur gesprochen wird, also wenn der Autor sich einer erkennbaren Eingerichtetheit, der sich Rezipienten ergeben haben, bedient.
Es ist natürlich immer ein Einzelner, der einen Machtprozess mit Kraft und zumeist mit viel Chuzpe in Gang setzt. So wie aber auch die Einzelnen die Empfänger und Wiederhall, Träger, Verstärker dieses Prozesses sind. Das Kollektiv ist die Illusion. Die Urheberschaft des Einzelnen steht der Macht nicht neutralisierend oder als ihr Gegenteil gegenüber, sondern ist ihr Anfang. Der erste Zeichenstrich ist der Grundstein für eine neue Kultur oder Tradition. Andernfalls ist es nur idiosynkratisches Rauschen, das niemand zu erfassen und folgen bereit ist. Wenn man aber fähig ist, bloßes Geräusch in etwas von Interesse und Bedeutung zu verwandeln, beginnt ein Prozess der Macht. Das erste Interesse ist der Funke der Macht. Der Keim einer neuen Autorität ist damit gelegt. Dazu bedarf es aber eines noch grundlegenderen Humus. Eine solche Autorität kann nur aus einer wahrgenommenen Differenz entstehen, um überhaupt etwas einen Vorzug geben zu können. Die allerersten Zeichen und Worte entstehen bereits aus einer Konstellation, die von Macht durchdrungen ist. Wer gibt den ersten Laut, wer führt und wer folgt oder weicht ab? Welchem Laut wird Bedeutung zugemessen, wessen Lautäußerung ist es überhaupt wert, gedeutet zu werden? Wer ist der Aufmerksamkeit würdig? Es ist ein dauernder Kampf um Deutungshoheit. Aber wem sollte man bei einer absoluten Gleichheit und Gleichverteilung von allem folgen? Worauf sollte man noch deuten? Es gäbe weder Grund, ja noch nicht einmal die Möglichkeit der Deutung noch der Gefolgschaft. Die Folge der Gleichheit(Indifferenz) ist - Gleichgültigkeit. Es ist alles - egal. Es kann hier kein Interesse mehr geben. Der Reiz des Interessanten besteht nur in der Differenz, in einem Gefälle.
Der substantivierte Machtbegriff selbst ist bestes Beispiel, wie schwer es fällt hinter die Sprache zu schauen, ihre Hypostase wieder aufzulösen und damit machtvolle Verklärung und Täuschung abzubauen, das Konstrukt wieder zu dekonstruieren. Man müsste die Sprache weitläufig entsubstantivieren, um Machtprozesse via Hypostasierung zu verhindern. Von der Sprache zum Sprechen als Vorgang zur Frage, wer spricht und mit welcher Intention und welchem Interesse etwas bedeutet wird. Nicht etwas hat Bedeutung, sondern etwas wird bedeutet.
Provokation als aufmerksamkeitsökonomische Methode der Macht
Macht bedingt im Sprechtakt einen Bezug auf etwas Drittes, einen Fokalpunkt außerhalb der Akteure. Allein das Vermögen, diese Fokalpunkte, also eine gerichtete Aufmerksamkeit zu verschieben, kann bereits als machtvoller Vorgang gedeutet werden, ja vielleicht als Machtmethode schlechthin, denn hierdurch ändern sich Gewichtungen und potentiell das Verhalten anderer. Der Machtkampf um die Deutungshoheit ist also ein Wettstreit, worauf gedeutet wird und in welche Richtung sich die Köpfe neigen. Die Aufmerksamkeit des Publikums wird hier als äußerst knappe Ressource erkannt, denn der Fokus auf eine Sache stiehlt allen anderen Sachen gerade jene Aufmerksamkeit. Aber wie zur Provokation gelangen? Eine Sache muss dazu problematisiert werden, wichtiger werden als alles andere. Womit man wieder bei Kostenkommunikation angelangt ist. Denn wie Aufmerksamkeit provozieren? Mit der Frage, was geschehen könnte, wenn wir unsere Aufmerksamkeit nicht auf eine bestimmte Sache lenken würden. Die Vorstellung des Verlustes provoziert zur Aufmerksamkeit. Der Weltuntergang hier als größter anzunehmender Verlust. Nun kann diese maximale Provokation schnell zu einer Überreizung damit zur Abstumpfung führen. D.h. die Provokation muss immer wieder mit neuen Reizen überraschen, also aus einer gewohnten Routine ausbrechen und aus dem Rahmen fallen, um dann aber Bezug zum eigentlichen Anliegen wiederherzustellen.
Kultur der Freiheit
Kann nun Freiheit als eine besondere Kultur als Ausnahme überhaupt bestehen, d.h. ohne dabei den üblichen Paradoxien zum Opfer zu fallen? Oder darf sie gar nicht zur Kultur werden, weil sie gerade mit dieser Kulturwerdung Gefahr läuft, sich ad absurdum zu führen und sich selbst wieder aufzulösen?
Die radikalste Freiheitsbewegung als weitestgehendes Lösen, Erlösen, Loslassen findet sich vielleicht in der Figur Jesu Christi - vollendet im “Reich Gottes” als rein vergeistiger Zustand der Befreiung von der Ursünde. Die Ursünde, die im Biss in die Frucht vom Baume der Erkenntnis von Gut und Böse bestand, dieses Abfallen vom Paradiese der unberührten Urteilslosigkeit. Solange diese Freiheit im Leben und der Passion Jesu völlig aufgeht, ist sie freilich keine Kultur. Aber dennoch nimmt hier eine Kultur ihren Anfang: im Sermon, in der Predigt als Sprechakt, in der Empfehlung, vielleicht bereits im bloßen Beispiel. Im Machtverzicht will Jesus sein Beispiel geben. Ist aber nicht der absolute Machtverzicht andererseits eine absolute Machtüberlassung? Jesus versucht der Machtausübung ihren Reiz zu nehmen, wenn er empfiehlt: “und wenn dich jemand nötigt, eine Meile weit zu gehen, so geh mit ihm zwei.“(Matt 5:41) Das ist die Methode Jesu. Obwohl Jesus sich scheinbar beugt, ja sogar das Doppelte vom Verlangten leistet, verwehrt er dem Zwingherrn die Genugtuung, einen Widerstand gebrochen zu haben. Und vielleicht beschämt er ihn sogar darin. Mit dem Verlust der Opposition verliert die Macht aber zunehmend ihre Grundlage, ihren Gegenstand, an dem sie sich messen, entwickeln und letztlich existieren kann. Darin besteht ihr Paradoxie. Sie darf nicht zu erfolgreich, zu raumgreifend werden, sonst zerfällt sie wie das zu groß gewordene Römische Reich wieder in kleinere Teile.
Ein radikaler Jesus kann nicht zur Kultur werden, denn er ist Kulturvernichtung. Er ist Löslösung von allem, von jedem Richten und Wägen und Hinwendung zum Unsagaren schlechthin, das keinen fassbaren, begreifbaren, befolgbaren Inhalt haben kann. Bleibt man bei der radikalen Deutung, dann gab es nur den einen Christen. Kultur besteht erst in der Wiederholung, in der Nachahmung, in einer Fixiertheit. Nun ist im “Christentum” ja eine unübersehbare, ja ungeheuerliche Einrichtetheit entstanden, die die Figur Jesu Christi als ihren Fokalpunkt etabliert - und sie mit weltlichen Interessen, mit Drohungen und Versprechungen füllt, also das ganze Instrumentarium der Macht spielt. Spätestens mit Paulus beginnt die kulturelle Vereinnahmung und Korruption dieser Einzigartigkeit. Abstinenz scheint unmöglich und wo sie praktiziert wird ohne jeglichen kulturellen Anspuch, wird sie nicht wahrgenommen und findet im kollektiven Gedächtnis der Geschichtsschreibung nicht statt oder sie wird sofort von einem Interesse zum Machtfaktor konterkariert.
Conclusio
In einer Welt der Interessensüberscheidung, also der knappen Mittel kann das Ergebnis nie die Anarchie(Machtlosigkeit) aller sein, sondern allenfalls ein Machtbewusstsein aller, die Panarchie oder zumindest die Polyarchie. So wie der Atheismus Gott gänzlich vertreiben will, will der Anarchismus die Macht gänzlich vertreiben. Dabei kann er nur die Panarchie ernsthaft meinen und wollen. Macht als Befähigung und Möglichkeit ist hier nicht zur problematisieren. Das fehlende Machtbewusstsein auf einer Seite ist es. Ihre Ohnmacht konstituiert die Macht der anderen Seite über sie. Macht gestaltet das Verhältnis der Menschen zueinander. Macht als Zwang kann nur ausgeübt werden, wenn eine Seite sich fügt, sich der Befürchtung des Verlustes beugt. Dass die machtausübende Seite davon ausgeht, ausgehen kann, diese Furcht antizipiert, ist wesentlicher Teil der Machtausübung. D.h. aber auch, dass der Mächtige diese Furcht kennen muss und dafür potentiell selbst empfänglich und anfällig ist. Er selbst hat Kosten zu tragen. Er selbst bewertet Kosten, auch seine Entscheidungen können kippen. Macht ist keine Einbahnstraße, sondern ein weitgehendes, sprachlich vermitteltes Beziehungsgeflecht gewoben aus Schein und Täuschung. Aber jede Täuschung ist der Gefahr ausgesetzt, einestages enttäuscht zu werden.
John Locke, Second Treatise of Government, Chapter V, paragraph 27.
Es ist jene Besessenheit, die wohl Max Stirner in seinem Einzigen(Der Einzige und sein Eigentum, 1844) am greifbaresten werden ließ. Es ist der Verlust des Bewusstseins dafür, dass eine Idee ja immer abhängiges Geschöpf eines schöpfendenden Eigners ist. Die Gemachtheit jeder Idee gerät hier in Vergessenheit, dass jede Idee einem partikularen Interesse dient und damit jederzeit auch verwerfbar ist. Stattdessen gewinnt die Idee selbst Autorität, wird gewissermaßen Besitzer und die der Idee verfallenen Menschen buchstäblich besessen von ihr.
Eine vielleicht der unterhaltsamsten und eindrücklichsten Darstellungen, was Macht ist und wie sie wirkt, findet sich in Andersons Märchen Des Kaisers neue Kleider. Zum einen finden sich hier ein Zahl an bereits etablierten Kulturzeichen: Krone. Kaiser. Zepter. Hermelin. Die ganze hoheitlicher Heraldik. Nicht zuletzt das legitimierende Gottesgnadentum. Dazu die Berufsbezeichnung der täuschenden Schneider als Bescheinigung oder Schein der Befähigung. Die Autorität des Titels, der von ihrem Interesse ausgenutzt werden kann. Und dann das Entscheidende: die geschickte initiale Kostenkommunikation durch die Schneider, die, wenn sie denn ernstgenommen werden kann, einen Machtprozess anstößt, der danach selbsterhaltend, ja selbstverstärkend sein kann. Wer die verfertigten Kleider bestehend aus einem ganz besonderen Stoff auf dem Körper des Königs nicht sehen kann, gilt als dumm, im Amte unfähig usw. Jeder der den Stoff nicht sehen kann und dies äußert, setzt sich damit dem Risiko des Verlustes aus. Verlust des Ansehens, des Einkommens, der ganzen Existenz letztlich - und so spielt man das falsche Spiel mit. Obwohl man den Stoff gar nicht wahrnimmt. Vielleicht ist es ja tatsächlich ein ganz besonderer Stoff. Man will sich nicht entblößen. Und so bewegt sich der Kaiser und alle anderen in einem gemeinsamen Reich des Als ob. Als ob er sichtbar bekleidet ist, obwohl niemand die Kleider tatsächlich sehen kann. Niemand ist bereit, diese wahrgenommene Diskrepanz zu kommunizieren. Jeder nimmt nur Menschen um sich herum wahr, die so handeln, als ob sie den besonderen Stoff sehen könnten. Und der Kaiser zahlt sogar eine gute Summe Gold dafür.
Nur ein kleines, naives Kind durchbricht dieses Machtverhältnis. Weil es keinen Ruf zu verlieren und keine Kosten zu befürchten hat, kann es frei aussprechen, was ohnehin alle sehen können: Der Kaiser ist nackt. Und dieser offenlegende Funke scheint zu reichen, die Kosten umstehender Zuschauer entscheidend zu senken und sie zur eigenen Offenbarung motivieren. Die sich bis dahin stützende Machtkonstellation bricht wie eine Reihe aus Dominosteinen zusammen und erreicht am Ende wieder den Kaiser selbst. Revolutionen im Großen geschehen nicht anders. Sie werden von Menschen angestoßen, die am wenigsten zu verlieren haben.
Popper, Logik der Forschung
Ein von Bazon Brock geprägter und an vielerlei Stellen verwendeter Begriff, etwa im Rahmen seines Vortrages “Evidenzkritik gilt nur durch Evidenzerweis. Zur Logik der Forschung” am Deutschen Elektronen Synchrotron, Hamburg, 11.10.2022